Kinderzeit in Elte

Am schönsten lassen sich Piepers Kinderjahre in seinen eigenen Worten darstellen.

„Aus eben diesen Gründen, vielleicht auch trotz alldem, gedieh um uns hier eine zwar nicht heile, beileibe nicht, aber doch eine auf besondere Weise vollständige, eine sichtbarlich komplette Welt. Nicht beschrien vom Geschwätz der öffentlichen Neugier und Langeweile waren die Elemente des Daseins, den eigenen Sinn samt und sonders leibhaftig fassbar. Garten, Acker, Fluss und Wald, Reifung und Misswuchs der Saaten, unter den Balken der Tenne die Schwalben, das Vieh im Stall, aber auch das unsichtbare Räubern des Iltis und der Ratten, zwischen Säen und Mähen die ruhige Zeit und dann wieder die mörderische Plakerei der Erntewochen. Die anschaubare Verfertigung der Gebrauchsdinge Pflug und Ackerwagen, Tisch und Schrank, Zaumzeug und Hufeisen, Mehl und Brot, Geburt, Krankheit und Sterben unter dem gleichen häuslichen Dach, der sakramentliche Feldersegen und der Jahrmarkt, Brautwerbung und Totengeleit, in der Scheune die Mundharmonika und das Brausen des väterlichen Orgelspiels in der Kirche. Rührseligkeit der Mägdelieder und die strenge Klarheit des Chorals. Der Reichtum dieser Kinderjahre ist offenkundig. Sind sie auch einfachhin eine glückliche Zeit gewesen, wahrscheinlich gibt es so etwas nur als gefühlvolle Selbsttäuschung des sich Erinnernden oder Außenstehenden.“

Theodora Holtkamp - Lehrerin in Elte

Ich war nicht 5 Jahre alt, als mein Vater mich, zu Ostern 1909, in die Schule aufnahm; und natürlich ging ich in das „unwohnliche“ alte Schulhaus; es lag ja auf der anderen Seite des Weges, gegenüber meinem Elternhaus. Zu dem gleichen Termin (Ostern 1909) war, als zweite Lehrkraft, eine Lehrerin ins Dorf gekommen; sie war also für die nächsten Schuljahre meine erste Lehrerin. Sie kam aus Rheine und hieß Theodora Holtkamp. Dieser ungewöhnliche Name Theodora war für mich wie etwas aus dem Märchen. Die neue Lehrerin wohnte bei uns im Haus, und wir waren sofort gute Freunde. Ich erinnere mich seltsamerweise noch heute an das strenge Parfüm der Seife, mit der sie sich ihre Hände wusch. Dass Ihre Hand an meine Nase kam, das war ganz natürlich; meine Nase befand sich ziemlich genau in der Höhe ihrer Hand.

Ich sagte, sie wohnte in unserem Hause. Und sie übernahm jedes Jahr die Rolle des Nikolaus; und natürlich wusste sie unheimlich genau Bescheid über alle meine etwa begangenen Unarten. Ich weiß nicht, wie spät ich die Maskerade durchschaut habe; in den ersten Jahren habe ich ihr immer haargenau berichtet, was der Nikolaus gesagt hat und habe es unbegreiflich gefunden, dass sie ausgerechnet an diesem Abend nicht zu Hause gewesen sei!

Ich habe Theodora Holtkamp natürlich sehr verehrt (das sie eine hochgewachsene respekterbietende Frau war, können Sie selber auf dem Foto mit den Erstkommunionkindern feststellen). Jahrzehnte später habe ich sie, bei Gelegenheit eines Vortrages in Rheine (ich glaube auf dem Thie), einmal besucht; und zu meiner Überraschung hatte sich unser Verhältnis umgekehrt; seltsamerweise fühlte sich die alte Dame geehrt und fast ein bischen geniert durch den Besuch eines „Professors“.

aus dem Manuskript Josef Piepers zum 200-jährigen Bestehen der Schule in Elte - 1992

Halleyscher Komet - 1909

Aber wir sind noch im Jahre 1909! Das Datum kann ich deswegen so bestimmt angeben, weil es sich um ein bestimmtes, nur alle 76 Jahre stattfindendes astronomisches Ereignis handelt.
Eines Nachts weckte mich mein Vater, holte mich aus dem Bett, hüllte mich in eine Decke, stellte mich im Garten auf einen der runden Gasthaustische, die wir von meiner Großmutter übernommen hatten – und dann zeigte er, hinter mir stehend, an meiner Nase vorbei in den nächtlichen Himmel: Sieh mal da: ein Komet! Es war der Halley‘sche Komet, den der Lehrerssohn doch unbedingt zu sehen bekommen sollte. Aber dieser didaktische Versuch ist dem Schulmeister, so weit ich mich erinnern kann, misslungen: ich war so schlaftrunken oder so aufgeregt, dass ich den Kometen wohl nicht gesehen habe. Mein Vater wusste nicht, dass ich ihn dann 76 Jahre später, mehr als 80 Jahre alt, sehen würde!

aus dem Manuskript Josef Piepers zum 200-jährigen Bestehen der Schule in Elte - 1992